Es war ein regnerischer und windiger Sonntagmorgen, das Licht vor den Fenstern war gräulich. Immer wieder brachen aus den Wolken unerwartete Schauer hervor, die sich unter den Peitschen der Böen wie echter Sturzregen anfühlen. Die Erde saugte dankbar die Feuchte in sich auf und alle Pflanzen, obwohl windzerzaust, schienen nach der heißen Trockenheit der letzten Tage aufzuatmen.
Seit dem Aufstehen erfüllte mich eine fast wohlige Melancholie, die durch jeden Augenblick des Morgens genährt wurde: das vorwurfsvolle Piepsen der nassen Gänseküken, die mir dennoch voll Vorfreude auf ihr Frühstück entgegen stapften, die feucht herabhängenden Mohnblüten in meinem Garten, die Ringelblumen, die offenen Auges hinauf in den Regenhimmel schauten, als hofften sie die Sonne als ihr Spiegelbild dort zu sehen.
Es wäre ein perfekter Tag zum Schreiben, Zeichnen und Musizieren gewesen, wie immer, wenn mich diese Stimmung erfasst, doch es nährte meine Melancholie nur weiter, dass diese Verbindung mit meinem Sehnen unmöglich war. Die Entwicklungsphysiologie der Pflanzen harrte meiner Aufmerksamkeit, mit Phytohormonen, chemischen Sythesewegen, Blühinduktion und Seneszenz, denn die letzten Tage war ich schon hinter meinem Lernpensum für die Klausur zurückgeblieben.
Ich machte es mir gemütlich, draußen das graue Seufzen des Regenwetters, drinnen Kerzenschein und Buchweizenpfannkuchen, die Luft meines Bauwagens durchwabert von Lavendelduft und den Klängen der philippinischen Musikgruppe Asin, so melancholisch und pathetisch, wie ich mich fühlte.
Und ich lernte.
Lernte fleißig und mit Interesse, obwohl ich doch in den vergangenen Wochen der Klausurvorbereitung mehr und mehr das Gefühl bekommen hatte, als würde ich einen Teil meines Selbst – den träumenden, künstlerischen und schöpferischen Teil – langsam und grausam mit endlosen Ketten aus toten Fakten strangulieren. Jeden Abend, wenn ich in meinem Garten saß, litt ich unter einer Schwermut, die sich mit dem schlechten Gewissen über den mangelnden Lerneifer die Waage hielt und mich lähmte, sodass ich unfähig war, meiner Erkenntnis zu folgen.
Ich müsste etwas zeichnen, etwas schreiben, dann würde ich mich besser fühlen, mit mir selbst wieder vereint. Doch ich konnte es nicht. Nur unglücklich darüber sein, dass weder Wörter noch Striche zu mir kamen und ins Leben gebracht werden wollten.
So saß ich also an diesem Sonntagmorgen an meinem Fenster mit Blick hinaus in die graue Regenwelt und lernte: Samenruhe, Abscisin- und Gibberellinsäure, Stratifikation. Keimung.
Plötzlich schreckte ein dumpfer Knall neben meinem Kopf mich auf und ich sah noch ein paar braune Federn stieben, ehe etwas Dunkles meinem Sichtfeld entfiel. Ich sprang auf, so schnell die gestapelten Bücher auf meinem Schoß es erlaubten, und eilte die Wagentreppe hinab, in die Welt des Nieselregens, in der eine braun getupfte Drossel mit seltsam verdrehtem Kopf in meinem Blumenbeet lag. Ohne Nachdenken griff ich nach ihr, berührte die samtigen Federn.
Einmal zappelte der Vogel noch mit den Krallen, blinzelte, ehe er ganz still wurde, die Augen nur halb geschlossen. Als ich den warmen kleinen Körper in meine Hände nahm, kamen mir die Tränen.
Gerade war die Drossel noch übermütig umher geflogen, sehr schnell wohl der Wucht nach, mit der sie gegen meine Fensterscheibe geprallt war, voller Freude über die Kraft ihrer Flügel und den Schwung des raschen Fliegens. Und nun lag sie schlaff in meinen Händen. So schnell kann es gehen.
Gleichzeitig bezauberte mich die Anmut des Vogels, der lange Fiederschwanz, der im Leben sicher munter gewippt war, die gefalteten Flügel und zierlichen dunklen Krallen. Den Vogel auf den Händen lief ich in meinen Bauwagen zurück, bettete das Tier auf ein Zeitungsblatt und kniete mich mit Stift und Papier davor auf den Teppich. Fast war mir, als hätte mir die Drossel mit ihrem Tod vor meinem Fenster ein Geschenk gemacht.
Die Zeit für das Glück ist heute, nicht morgen!
Ich zeichnete die liebe Drossel, die mich so sehr anrührte und mir zugleich die Wahrheit der Vergänglichkeit vor Augen führte. Ich zeichnete sie, weil sie noch im Tod so schön war und weil ich diesen Augenblick nicht vergessen wollte.
Die Zeit für das Glück ist heute, nicht morgen.
Schon vor einer Woche stand dieser Spruch auf meinem Kalender, doch nur mein Kopf hatte ihn begriffen. Nun verstand auch mein Herz, mit einem Aufschluchzen und einem Lachen zugleich. Die Zeichnung floss nur so auf das Papier und mich ergriff das wunderbare Gefühl des Einklangs, das mich immer dann erfüllt, wenn die richtige Schöpfung zum richtigen Zeitpunkt geboren wird. Ein geschenktes Glück.
Noch einmal streichelte ich leicht über die weichen Brustfedern der Drossel, ehe ich sie an meiner Telekie begrub, die mit ihren gelben Blüten der hervor blitzenden Sonne zulächelte.