Mich umgibt das Murmeln von Stimmen wie Klänge aus einer friedlichen, grünen Welt. Doch nicht Bäume bilden den Wald, sondern die Köpfe der Menschen, die vor mir in Reihen sitzen und erwartungsvoll auf fünf grüne Stühle schauen. Eine Brise geht durch die Menge und macht sie verstummen, als jemand vorne zu sprechen beginnt. Ich lausche den Worten und dem Sinn dahinter, bis die Sätze vieler Menschen mich umspülen und nur ein Bild verweilt und sich ausdehnt: der Schimmer einer gläsernen Decke.
Sie umspannt in einem weiten Bogen die Welt, ist hier dicker, dort dünner angelegt. Hier zart, nur ein Hauch mundgeblasenes Glas, schillernd und beinahe unsichtbar, sogar mit einer gewissen Schönheit versehen; Dort meterdick und hart wie Panzerglas, unzerbrechlich und erstickend.
Ich sitze auf einem unbequemen Stuhl und blicke empor, sehe sie dort schweben. Hier scheint sie so dünn, dass ich sie manchmal kaum sehe, so dünn, dass sie anderen noch nie aufgefallen ist, so dünn, dass Menschen sie leugnen und für verrückt erklären, wer sie sieht und auch noch von der Erscheinung zu sprechen wagt.
Versuch du nun, sie einzuschlagen, Schwester, denn darüber siehst du den blauen Himmel und denkst, dort oben kannst du fliegen; Ich schaue dir zu. Vielleicht gelingt es dir ja.
Du baust die eine Leiter – deine Eltern haben dir ja schon beigebracht, wie das geht – und kletterst empor. Dein erster Schlag ist zu schwach, du stößt dir nur schmerzhaft die Knöchel an dem Glas, das doch so hauchzart erscheint. Du wirst wütend und holst erneut aus, schlägst ein Loch in die gläserne Decke. Ein paar Splitter regnen herab und deine Knöchel schneiden sich am scharfen Glas.
Nur: Das Loch ist zu klein. Wie willst du dort hindurch klettern?
Wirf einen Blick nach unten. Dort stehen deine Schwestern. Die meisten von ihnen kennst du nicht, sie wollen nicht das gleiche wie du und sie denken auch anders. Manche sehen die gläserne Decke nicht und geben sich nur selbst die Schuld, weil sie den blauen Himmel noch nie erreichen konnten. Diese Versagerinnen. Andere mustern die Decke und schütteln den Kopf; Sie nehmen ihre Kinder an die Hand und wenden sich ab. Der blaue Himmel ist nicht alle Opfer wert. Sie können auch so glücklich sein, sagen sie sich.
Du verstehst nicht, warum außer dir niemand eine Leiter gebaut hast, dabei bemerkst du nicht, dass unten zwei Frauen stehen und deine Leiter halten, damit du sicher klettern kannst, dass du anderen Dinge fort genommen hast, um deine eigene Leiter zu bauen. Dass die Scherben deines Schlages gegen das Glas dir zugewandte Gesichter zerschnitten haben.
Alles, was du siehst, ist das kleine Loch in der gläsernen Decke. Das Blut auf deiner Hand. Und du willst nicht aufgeben.
Wieder und wieder schlägst du auf das Glas, erweiterst das Loch, bis dir Blut über beide Arme läuft und der Schmerz dich nur weiter vorantreibt, denn unter dem blauen Himmel, das glaubst du, wird der Schmerz aufhören. Endlich ist das Loch so groß, dass du die frische Luft um deine Nase spürst. Mit blutigen Händen ergreifst du die Kante. Du ziehst dich hoch und stürzt die Leiter dabei um, trittst noch einmal hart dagegen, sodass sie am Boden zerschellt. Es ist deine Leistung, du allein hast die Glasdecke durchbrochen. Sollen sich andere eigene Leitern bauen.
Du schaust hinauf in den blauen Himmel.
Doch der Schmerz hört nicht auf. Er macht nicht einmal mehr einen Sinn. Irgendwann spürst du einfach gar nichts mehr. Nicht einmal dann, wenn du nach unten schaust, wo deine Scherben ein Blutbad angerichtet haben und die beiden Schwestern, die deine Leiter hielten, von deinem Machwerk erschlagen wurden.
Sie alle hätten auch vollbringen können, was du getan hast.
Aber weißt du was?
Viele wollten es nicht.
Wir können Löcher in diese Glasdecke schlagen, hier, wo sie dünn und scharf ist. Jede für sich. Du hast dafür gekämpft und gelitten. Warum kämpfen wir nicht zusammen? Warum schlagen wir nicht die ganze Decke ein?
Denn was du nicht siehst: Für dich war sie nur ein Hauch. Doch andere stehen vor armdickem Glas. Wie sollen sie das einschlagen? Warum sollen sie das müssen?
Und noch etwas siehst du nicht: Der blaue Himmel ist nicht das Ziel, sondern nur ein Weg unter vielen. Er ist die Freiheit, sich zu entscheiden. Du siehst das nicht mehr. Du stehst auf der gläsernen Decke und schaust dich um, und alles was du siehst, ist dein Erfolg.
Die moralische Leitwährung: Was Erfolg bringt, ist gut. Aber was ist Erfolg?
Ich stehe unten, unsicher, ob ich mich an der gläsernen Decke versuchen soll oder ob ich mich ganz wohl fühle, wo ich jetzt bin. Ich schaue empor und sehe dich.
Nur für mich allein würde ich mir die Mühe wohl nicht machen, die du auf dich genommen hast. Ich bin nicht so gut darin, Leitern zu bauen. Es liegt mir einfach nicht. Ich bin auch nicht so gut im Klettern, denn mir fehlen die Ellenbogen dafür.
Meine Zukunft liegt vor mir als ein großes, weites Land, über dem die gläserne Decke charmant in der Sonne schillert, wie ein ironisches Lächeln. Ich kann so viele Wege gehen. Ich muss mich nicht einsam durch die Glasdecke kämpfen.
Denn ich stehe nicht allein.
Langsam taucht das Podium wieder vor mir auf, wie eine Insel in der Ferne. Das Meer von Köpfen trennt mich von denen, die dort sprechen, und verbindet mich zugleich mit ihnen. Ein Meer aus Haaren; Kurzhaarfrisuren in allen Farben von weiß bis rot, Lockenköpfe, lange Mähnen in schwarz oder blond und allen Schattierungen dazwischen, punkige Sidecuts, elegante Flechtzöpfe und Hochsteckfrisuren; Volles Haar auf vielen Köpfen, vom Denken und Leben schütter gewordenes auf anderen.
Eine Rednerin formuliert ein schönes Schlusswort, das mich aus meinen Gedankenbildern auftauchen lässt. Alle klatschen, ich auch.
Dieses Panel hat mir mehr gegeben als nur Wissen über die diskutierten Themen. Es hat mir ein Bild gegeben und Farben. Für mich gibt es wenig, das wertvoller wäre.
… abgedriftet bei Dare the Im_possible : Wage das Un_mögliche
feministischer Kongress
15. bis 18. Oktober 2015
Heinrich Böll Stiftung Berlin