Es ist ein Abend im Herbst, dunkel und frostig. Ich gehe langsam durch die Stadt, vorbei an glitzernden Schaufenstern mit erleuchtenden Fenstern darüber, wo Wohnungen gelegen sind, Wohnungen von Menschen, die mir fremd sind.
Die Häuser lächeln mild der Nacht entgegen, wohlig beheizt und bewohnt. Dazwischen verschwinden – wie faule Zähne – einzelne Gebäude im Dunkel. Sie sind nicht älter als die anderen Häuser, doch ihr Putz bröckelt und von den verrammelten Fenstern blättert der Lack. Plakate und Graffiti tummeln sich an ihren Fassaden, ihr Inneres aber ist verödet. Ich fühle mich einsam, als ich an diesen traurigen Häusern vorbei gehe, als seien diese faulen Zähne im adretten Lächeln der Stadt tatsächlich lebendige Wesen, die vor aller Augen einen langsamen Tod sterben. Einsam, aber auch machtlos fühle ich mich. Diese Häuser sind nicht mir zugedacht, nicht ich kann sie retten und wieder mit Leben und Leuchten erfüllen.
Ich wende mich ab von dieser Straße und biege ein in den Schatten des Doms. Ein paar Bäume tanzen im Mondlicht einen Reigen um die Kirche und wispern dabei eine schwermütige Weise, die lauter wird als ich mich ihnen nähere, bis ich vor einem erleuchteten Fenster stehen bleibe.
Schon oft habe ich auf meinem abendlichen Weg an diesem Bilderrahmen in eine andere Wirklichkeit angehalten, um hinein in den Saal zu schauen, auf die Bühne und die Menschen, die auf der anderen Seite des Fensters in die gleiche Richtung schauen wie ich. Wir sind uns so ähnlich, doch das Glas trennt uns. Wie die leeren Häuser nicht bestimmt sind, von mir gefüllt zu werden – sondern nur dazu, dass ich sie anschaue – so ist auch dieser Saal umso magischer für mich, weil ihn ihn nur durch den Rahmen des Fensters kenne: das alte Fachwerk, in das moderne Beleuchtung und eine Empore eingefügt wurden, die Reihen von Stühlen und die immer verschiedenen Sänger auf der kleinen Bühne.
Das Fenster verzaubert mich.
Auch die Bäume sind verzaubert. Sie singen im Klang der Töne, die aus dem leuchtenden Raum in die Nachtluft schweben. Schlagzeug, elektronische Gitarre, Geige und Flöte begleiten ein Lied von verlorenen Geistern, die ihr Leid klagen, beleuchtet von farbigen Lichtern.
Verlorene Geister, die rastlos wandern, an kalten Seen, in der Einsamkeit der Nacht, die das Verhallen ihrer unbeantworteten Stimmen nicht ertragen.
… all mein Grün musste fallen, meine Seele ist rastlos …
Und ich fühle, wie meine Füße Wurzeln schlagen.
… Kannst du es nicht auch fühlen, wenn der Winter im Mai noch einmal Frost über das Land haucht? Wenn deine Liebsten weit fort sind?
Wie kannst du diesen Schmerz ertragen, wenn die schwersten Albträume dich plagen? …
Die Geige erhebt eindringlich ihre Stimme. Ein Saal voller Menschen lauscht andächtig der Klage, die Bäume lauschen, der Dom und auch ich, draußen vor meinem Fenster. Wir alle sind bewegt von den Klängen. Ich fühle mich verloren und geborgen zugleich.
… Errette mein Grün, es musste alles fallen, errette meine Ängste, sie verfolgen euch im Schlaf. Hilf mir, mein Herz liegt am Boden …
Kurz glaube ich fast, die Türen neben dem Fenster würden sich öffnen, leuchtend in der Nacht, und mich einladen, weil sie meine Einsamkeit spüren. Als sei die Klage der Geister in dem Lied meine eigene Stimme, die endlich Gehör findet und von dem Haus beantwortet wird, das mich umfängt und in den Saal hinein bittet, in diesen Saal voller Lichter und Wärme und Klänge und Menschen, zu denen ich dann endlich dazugehören darf.
Doch das Lied verstummt. Die Tür bleibt zu. Das Fenster verliert seinen Zauber, als es nur noch Bild ist und nicht mehr Klang.
Ich packe fest den Riemen meiner Tasche und schon verlieren meine Füße ihre Wurzeln und tragen mich fort von dem Fenster, vorbei an Schatten, so groß wie Häuser und Bäume, die mir im Wind mit den Zweigen drohen. Straft mich die Nacht dafür, dass ich mir wünschte, was nicht für mich gedacht ist? Alle Fenster, selbst alle Straßenlaternen an meinem Weg scheinen verloschen zu sein, als ich über des Kopfsteinpflaster stolpere. Und ich fühle es.
Als käme der Winter im Mai zurück ins Land, als wären all meine Liebsten unendlich weit fort und ich ganz allein auf der Welt.
Ich erreiche die Tür zum Mietshaus in Düsternis, finde kaum das Schloss und bin schon den Tränen nahe, als die Tür sich endlich öffnet und Licht aus dem Treppenhaus in meine Seele flutet. Endlich kann ich wieder ruhiger atmen.
Dann erst bemerke ich eine grauhaarige Frau, die eine bunte Strickjacke über mehreren Pullovern trägt. Drei volle Plastiktaschen stehen neben ihr, wie sie sich im Eingang des nächsten Hauses vor dem Wind duckt. Unsere Blicke treffen sich im Licht der geöffneten Tür.
An jedem anderen Tag wäre ich wohl einfach hinein gegangen und hätte die Tür hinter mir ins Schloss gezogen. Nun aber sehe ich die unausgesprochene Bitte in der Haltung der Frau, den Stolz, der sie Schweigen lässt, und ihre Einsamkeit. Und die Musik des tönenden Fensters öffnet die Haustür weiter. Ich lächle gegen die Einsamkeit an und lasse eine Fremde ein.
Die Wärme und das Licht des Hauses heißen uns beide willkommen.